Bosnien und Herzegowina: der Balkan im ständigen Umbruch

von Bianca Boros

Die politische Frage zu Bosnien und Herzegowina (BiH) gehört zu einer der kompliziertesten Fragen in Bezug auf den europäischen Imperialismus heute. Lenins Analysen in  „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ sind dabei aber hilfreich: “So verschieden die Abhängigkeit der Länder sein kann, wie politisch formal sie auch bestehen mögen - in Wirklichkeit sind sie in einem Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit gefangen.” Warum und wie deutlich das im Fall von BiH zutrifft, erläutern wir in diesem Artikel.

Im März 2024 empfahl die EU-Kommission Beitrittsverhandlungen mit dem Westbalkan-Staat. Zentral bei den Verhandlungen ist die Situation um die EU-Außengrenzen und damit auch die Flüchtlingspolitik. Damit bemüht sich die EU aufgrund eigener Interessen um weiteren Einfluss am Balkan. Der Imperialismus wirkt im BiH heute nicht mehr als klassischer Kolonialismus, sondern viel mehr über seine aufgezwungene, ökonomische Abhängigkeit: Was sich früher durch militärische Besetzung des osmanischen Reiches oder der Habsburger-Monarchie zu eigen gemacht wurde, wird heute von 200 österreichischen Unternehmen, der größten saudischen Shoppingmall und ethno-nationalen, korrupten Parteien kontrolliert. Wo sie sich bereichern, schauen die Menschen durch die Finger: Die Arbeitslosenrate liegt seit 3 Jahren konstant bei über 30%, die Jugendarbeitslosigkeit bei 60%! Einer UN-Statistik aus 2020 zur Folge, wird die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung durch Abwanderung bis 2050 um 50% schrumpfen.

Bekannt für eines der kompliziertesten Regierungssysteme der Welt, teilt sich die geographische Region BiH zusätzlich in 2 Entitäten auf: 1. Bosnien  und die Herzegowina und 2. die Republika Srpska. Diese Aufteilung und die gespaltenen Regierungssysteme sind ein Erbe des Bosnien-Krieges der 1990er-Jahre. Die politischen Gegebenheiten heute sind das Erbe aus der Zeit Jugoslawiens, der verpassten Chance einer sozialistischen Föderation. Sehen wir uns die Lehren aus der Geschichte näher an:

Vom Sozialismus in einem Land zum Ethnonationalismus

Der Kampf gegen den Faschismus war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Massenbewegung unter Führung der Kommunistischen Partei von alleine über 400.000 Widerständigen in der Volksbefreiungsarmee geworden. So wurde Jugoslawien nach dem Ende des Krieges zu einem europäischen Sonderfall eines Vielvölkerstaates auf Basis einer verstaatlichten Wirtschaft, der verschiedenen Ethnien zunächst Minderheitenrechte zusprach und in den ersten Jahren  wirtschaftlich florierte. Im komplizierten Nachkriegs-Gefüge setzte Staatschef Tito zwar auf Unabhängigkeit von der stalinistischen Sowjetunion, aber auch auf ein Auskommen mit der NATO. Statt internationaler Revolution übernahm er die stalin’sche Formel des “Sozialismus in einem Land”; eine politische und ökonomische Sackgasse. Druck aus dem Ausland und Eigeninteressen der politischen Bürokratie an der Wirtschaft führten zu einer wirtschaftlichen Sackgasse. Die Reaktion der Regierenden in den Teilrepubliken war die Hinwendung zum Nationalismus, um von den Krisen abzulenken.

Die Zeit ab den 1980er-Jahren war geprägt von nationalistischer Hetze über “ethnisch Andere” und selektiver, manipulierender Geschichtsinterpretationen. Die neuen nationalistischen Parteien konnten an der Politik der Erinnerungs- und Identitätskonstruktion der Tito-Ära anschließen und sie für sich nutzen. Anfang der 1990er Jahre brach im Zuge der nationalistischen Ansprüche an unterschiedliche Teilregionen der Bosnien-Krieg aus. Wo 1991 noch 80.000 Menschen bei einem Konzert für den Frieden feierten, trug die politisch instrumentalisierte Hetze über Religionen, Herkunft, Name und Zugehörigkeit zu einem Freund-Feind-Schema bei, das zwischen 1992 und 1995 zu einem Genozid mit 100.000 Toten führte. 8.000 Bosniak*innen alleine wurden in Srebrenica ermordet. Fast 17.000, die als getötet gezählt werden, gelten bis heute als verschollen. 

Unabhängigkeit: Set up to fail?

Was nach dem Krieg auch heute noch in BiH zurückbleibt, ist eine tiefe Krise, die nach wie vor ethno-nationalistischen, neofaschistischen und imperialen Kräften aus Russland, China und Saudi-Arabien, aber auch Österreich den Weg für ihren Einfluss ebnet. So sind praktisch alle wichtigen Wirtschaftszweige des Landes unter Kontrolle ausländischer Konzere. 85% des Finanzsektors gehören zum Beispiel Banken aus Österreich. In jedem Klassenkonflikt in BiH stehen die Arbeiter*innen also nicht nur “ihrer” nationalen herrschenden Klasse entgegen, sondern immer auch ausländischen Konzernen. Dadurch bekommt jeder Klassenkampf eine nationale Note.

Ehemalige Kriegsverbrecher*innen werden von verschiedenen Seiten verherrlicht, sind teilweise heute immer noch in der Politik tätig. Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska leugnet den Genozid in Srebrenica und fordert den Aufbau eines Großreiches für Serbien.

Das Friedensabkommen von Dayton 1995 hat einen “Hohen Repräsentanten” für BiH festgesetzt, um für politische Stabilität zu sorgen. Der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt ist als Repräsentant Teil der bosnischen Staatsgewalt und kann ohne Unterstützung vom Parlament Gesetze erlassen und Behörden bewachen. 2022 haben tausende Menschen gegen Schmidt und sein Gesetz zur Budgetpolitik demonstriert. In diesem Gesetz wurden nicht nur die Politiker*innengehälter einmal mehr erhöht, Schmidt stellte auch direkt nach den Parlamentswahlen ein Gesetz, das serbische und kroatische Politiker*innen besser stellte. Das zeigt einmal mehr die direkten, neokolonialen Ansprüche in BiH.

Was braucht es?

Um eine internationale Einheit der Arbeiter*innenklasse aufzubauen, braucht es eine Aufarbeitung dieser traumatischen Geschichte und den Verbrechen, sowie eine Anerkennung der Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung. Es braucht eine Arbeiter*innenbewegung, die sich auch aus dem Bewusstsein einer internationalen Arbeiter*innenklasse in ihrer Forderung nach einem besseren Leben, Freiheit und Selbstbestimmung ergibt. Beispiele für solches Potential haben wir 2023 gesehen: Proteste für höhere Löhne der Gesundheitsbediensteten in Sarajevo, Demonstrationen in Banja Luka mit derselben Forderung im öffentlichen Dienst. Im ganzen Land demonstrieren Frauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt und die jüngsten Femizide.

Beim „bosnischen Frühling“ 2014 haben die Arbeiter*innen verschiedener privatisierter Fabriken in Tuzla, Sarajevo, Mostar und anderen kleineren Städten nach etlichen Jahren an Streiks für ihre Rechte gekämpft: Ihnen wurde über Monate, teilweise Jahre hinweg weder Lohn noch Sozialversicherung bezahlt. Arbeitslose, Pensionist*innen, Student*innen und die Arbeiter*innen selbst organisierten Plenarsitzungen, um Forderungen an die Politik zu stellen. Ein Arbeiter der Fabrik in Tuzla sagte im öffentlichen Treffen: „Wir sind nicht wie die Politiker[*innen], sie trennen die Leute. Wir, die Arbeiter*innen sind von verschiedenen Nationen und Ethnien, aber wir sind alle vereint.“ Die gemeinsame Organisierung zeigt Potential und Notwendigkeit einer geeinten Arbeiter*innenklasse für eine bessere Zukunft in BiH, aber auch international.

 

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