Di 24.01.2006
2005 erschien im Promedia Verlag (Wien) eine Auswahl von Texten des russischen Revolutionärs Trotzki unter dem Titel “Sozialismus oder Barbarei”, herausgegeben von Helmut Dahmer. Gegliedert wurde in drei Abschnitte, wobei Kapitel II “Faschismus und Stalinismus” den Kern von Trotzkis Schaffen umfasst. Gleichzeitig wird der Versuch einer Auswertung von Trotzkis Positionen unternommen – hier werden allerdings eher alte Vorwürfe und Vorurteile wieder aufgewärmt.
Die Frage des Parteiaufbaus
In einem ausführlichen Teil schildert Dahmer einen frühen Konflikt in der Frage des Parteiaufbaus zwischen Lenin (dem führenden Kopf der Bolschewiki) und Trotzki. Tatsächlich schloss sich Trotzki erst 1917 den Bolschewiki an und teilte bis zu diesem Zeitpunkt die Kritik anderer Strömungen der russischen Sozialdemokratie an deren verbindlichen Organisationskonzept (Mitglied konnte nur werden wer sich aktiv am Parteileben beteiligte). Doch Dahmers Gegenüberstellung von Trotzki zu Lenin bleibt unvollständig und dadurch fehlerhaft. Trotzki erklärte in späteren Jahren mehrmals seine Korrektur in dieser Frage. Im Jänner 1940 schrieb er “... ich war (konkret im Jahr 1912; Anm.) gegen das Lenin-‚Regime', weil ich noch nicht verstanden hatte, dass eine fest zusammengeschweißte, zentralisierte Partei unentbehrlich ist, um das revolutionäre Ziel zu verwirklichen.” Lenins Vorstellungen zielten darüber hinaus keineswegs – wie sooft unterstellt – darauf ab, die Herrschaft einer kleinen Gruppe Auserwählter über die ArbeiterInnenschaft zu errichten. Im Gegenteil: Selbst in seinen letzten aktiven Lebensmonaten focht Lenin mit Trotzki gemeinsam für die Wiederrichtung der rätedemokratischen Strukturen und gegen die beginnende bürokratische Selbstherrschaft.
Der Bürgerkrieg und die Hintergründe der Politik Trotzkis
Die Organisationsstruktur der Bolschewiki war eine Vorbedingung dafür, dass diese Partei in der revolutionären Situation von 1917 – als einzige sozialistische Kraft Europas – die Initiative zum Sturz des Kapitalismus ergreifen konnte. Dem stand in der Folge eine Welle der Konterrevolution gegenüber. Dazu zählten die militärischen Operationen aus dem In- und Ausland, die Wirtschafts-Blockaden sowie die Schwäche des Sowjetstaates aufgrund der Isolation und dem Übergewicht von Land und Bauernschaft gegenüber den städtischen ArbeiterInnen und der Industrie. In den komplizierten Fragen der inneren und äußeren Umstände revolutionärer sowie gegenrevolutionärer Umwälzungen hätte Dahmer sich und uns durch Passagen aus Trotzkis Broschüre “Terrorismus und Kommunismus – Anti-Kautsky” (1920) ein umfassenderes Bild ermöglichen können. Darin argumentiert Trotzki gegen die Angriffe des deutschen Sozialdemokraten Kautsky auf die Oktoberrevolution. Dieser gibt den Bolschewiki eine Art Generalschuld für den BürgerInnenkrieg ab 1918. Dagegen erklärt Trotzki den internationalen Zusammenhang. Die Schärfe des Kampfes in Russland wurde bereits im August 1914 in Deutschland vorherbestimmt, als die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten die Kriegskredite bewilligten. Die Kriegsunterstützung fast aller Parteien der sozialdemokratischen “2. Internationale” verschärfte die Lage der Anti-Kriegs-Bewegung und revolutionären Kräfte. Der Friedensschluss mit Deutschland, den die Oktoberrevolution erzwang, konnte nur teuer und durch Schwächung erkauft werden. Dahmers Vorwort läßt all die internationalen Verwicklungen größtenteils außer Acht. Vor diesem Hintergrund ist das Fehlen von zentralen Texten zu Deutschland (Novembberrevolution 1918 und 20er), China, Frankreich, Spanien, England bitter. Aufgrund der internationalen Gemengelage konnte die Bürokratie in den Sowjetstaaten als Zentralgewalt Fuß fassen. Zumindest im Text über “Die österreichische Krise” (1929) wird die Rolle und das Scheitern der sozialdemokratischen Politik in den alten kapitalistischen Ländern angeschnitten. Diese hatte großen Anteil an der Festigung des Stalinismus.
Kam die Revolution zu früh?
Dahmer fasst in seinem Vorwort zusammen: “Die bolschewistischen Revolutionäre kamen zu früh, ihr Ausbruchsversuch aus dem System der weltweiten Lohnsklaverei ist mißlungen.” Das war allerdings genau die damalige Haltung der internationalen Sozialdemokratie – nicht zuletzt der österreichischen – die freilich “vergaß”, dass alle “ihre” Errungenschaften die nach ersten Weltkrieg durchgesetzt werden konnten, mit der Angst des Bürgertums vor “russischen” Verhältnissen zu tun hatte. Die tiefe kapitalistische Krise der 20er und 30er Jahre, sowie die Machergreifung des Faschismus zeigte demgegenüber ebenfalls, dass die Politik der Bolschewiki sehr vorausschauend gewesen war – im Gegensatz zum Glauben, den Sozialismus schrittweise in Europa einführen zu können. Seine ganze pessimistische Grundhaltung legte Dahmer übrigens schon einmal in einem Artikel dar. Dort sprach er von bis zu einem Jahrhundert, bis eine neue sozialistische Bewegung Anlauf nehmen könnte. Diesen Pessimismus mag sich Dahmer leisten können – soziale Bewegungen weisen allerdings ihre eigenen Dynamiken auf. Revolutionäre Marxisten wie Leo Trotzki dachten daher in ganz anderen Kategorien: 1905 musste er als Vorsitzender des Sowjets in St. Petersburg die totale Niederlage einer Revolution, Verfolgung und Vertreibung hinnehmen. Nur zwölf Jahre später kam es schließlich zu einem erneuten Anlauf …